Smarte Algorithmen für Produktion und Lieferketten

So rüsten sich Unternehmen für eine nicht planbare Zukunft

Von Matthias Berlit*

Unvorhersehbare Ereignisse haben zuletzt wiederholt die Lieferketten von Unternehmen unterbrochen und fein abgestimmte Produktionsplanungen durcheinandergebracht. Mathematische Modelle können solche Ereignisse zwar nicht vorhersagen, wohl aber ihre Auswirkungen abmildern, indem sie Unternehmen bei schnellen und bestmöglichen Reaktionen unterstützen. Gleichzeitig helfen sie bei der Planung in einer immer komplexeren und volatileren Welt.

Schon das Fehlen eines einzigen Bauteils vermag eine ganze Branche auszubremsen, wie die deutsche Automobilindustrie derzeit erfahren muss. In ihren Fahrzeugen überwachen und steuern mehr und mehr Computerchips die einzelnen Komponenten und Funktionen, doch weil auch andere Branchen einen hohen Chipbedarf haben, sind die wichtigen Bauteile seit Monaten knapp. Die großen Fahrzeughersteller mussten bereits ihre Produktion herunterfahren und sogar teilweise stoppen – im Frühjahr schickten sie Mitarbeiter in Kurzarbeit und im Sommer früher in die Betriebsferien. Ihre Kunden müssen sich auf längere Lieferzeiten einstellen oder Abstriche bei der Ausstattung ihres Wunschautos machen.

Verschärft wurde die Chipkrise in der ersten Jahreshälfte noch von einem heftigen Wintersturm im texanischen Austin und einem Corona-Ausbruch im malaysischen Malakka, die die Produktion bei wichtigen Halbleiterherstellern lahmlegten. Solche unvorhersehbaren Ereignisse, zu denen auch die Blockade des Suezkanals durch das Containerschiff „Ever Given“ und die Staus an großen südostasiatischen Containerhäfen zählen, haben zuletzt immer wieder die Lieferketten deutscher Unternehmen auf die Probe gestellt. Viele von ihnen überdenken deshalb nun ihre Sourcing-Strategien und versuchen, sich durch zusätzliche und regionale Lieferanten unabhängiger von einzelnen Zulieferern, Umweltereignissen und geopolitischen Auseinandersetzungen zu machen.


„Moderne Planungstools nutzen mathematische Modelle, um Ressourcen und Prozesse tagesaktuell oder in Echtzeit zu optimieren.“


* Matthias Berlit ist Geschäftsführer des Aachener Optimierungsspezialisten INFORM GmbH

Allerdings garantieren auch neue Sourcing-Strategien keine dauerhaft sichere Versorgung mit Rohstoffen und Bauteilen, denn hierzulande können unvorhersehbare Ereignisse ebenfalls die Lieferketten unterbrechen. Das hat in den vergangenen Monaten die Corona-Pandemie überdeutlich gezeigt, und das zeigen ganz aktuell auch die Hochwasser in verschiedenen Regionen Deutschlands sowie die Streiks im Güterverkehr der Deutschen Bahn. Letztlich leben wir längst in einer sogenannten VUKA-Welt – einer Welt, die volatil, unsicher, komplex und ambivalent ist und auf die sich Unternehmen einstellen müssen.

Komplexe Prozesse erfordern digitale Lösungen

Viele, vor allem technische Produkte bestehen aus hunderten oder gar tausenden Einzelteilen. Hersteller fertigen sie in aufeinander aufbauenden Produktionsschritten, noch dazu häufig in unterschiedlichen Varianten. Die Materialdisposition, Kapazitätsplanung, Transport- und Produktionssteuerung ist entsprechend komplex, und bereits kleine Ungenauigkeiten in der Planung oder geringfügige Abweichungen etwa durch fehlende Teile führen zu erheblichen Verzögerungen und hohen Kosten. Die Planungs- und Steuerungsprozesse lassen sich jedoch ausgezeichnet in mathematischen Modellen abbilden, die vorhandene Ressourcen und verfügbare Kapazitäten optimal aufeinander abstimmen und dabei alle Abhängigkeiten und Termine berücksichtigen.

Moderne Planungstools nutzen mathematische Modelle, um Ressourcen und Prozesse tagesaktuell oder in Echtzeit zu optimieren, Aufträge bei Bedarf neu zu priorisieren und bei sich ändernden Anforderungen innerhalb kürzester Zeit verschiedene Handlungsszenarien durchzuspielen. Mit ihrer Hilfe lasten Unternehmen ihre Maschinen und Anlagen besser aus, erhöhen ihre Termintreue und nutzen vorhandene Bestände bestmöglich, statt zusätzliche Sicherheitsbestände aufzubauen, die Kapital binden. Sie fällen schnellere und bessere Entscheidungen, tun sich mit der Automatisierung leichter und gestalten ihre Prozesse deutlich resilienter.  


Der Mensch würde intuitiv anders planen als ein Algorithmus. Nach seiner Planung wäre Auftrag B zwar wie gewünscht vor Auftrag C fertiggestellt – beide aber nicht innerhalb der Frist. Der Algorithmus empfiehlt daher, Auftrag B zurückzustellen, damit wenigsten Auftrag C termingerecht fertig wird.

(Quelle: INFORM)


Zwar können auch die Algorithmen keine Ereignisse wie eine Pandemie oder einen Brand bei einem Zulieferer vorhersagen, dafür treten diese zu singulär und zu plötzlich auf. Doch sie unterstützen Unternehmen bei einer schnellen und optimalen Reaktion und helfen dadurch, die Auswirkungen abzuschwächen. Die Algorithmen berechnen für die jeweilige Situation die besten Szenarien, um beispielsweise mit den noch verfügbaren Lagerbeständen möglichst viele oder strategisch wichtige Aufträge fertigzustellen.

Algorithmus schlägt Mensch

Häufig unterschätzen Unternehmen die Bedeutung digitaler Planungstools oder wissen schlicht zu wenig über deren Leistungsfähigkeit. Stattdessen setzen sie auf zeitraubende und abstimmungsintensive manuelle Verfahren oder bestenfalls Excel und verschenken enorme Chancen. Weder Erfahrung noch Bauchgefühl können mit mathematischen Modellen mithalten, denn das komplexe Prozessgeflecht mit begrenzten Ressourcen und Kapazitäten und zahlreichen Abhängigkeiten vermögen Menschen kaum zu überblicken und richtig zu bewerten. Das zeigt sich beispielhaft in der Produktionsplanung, wenn Fristen knapp bemessen sind und Menschen intuitiv wichtige Aufträge höher priorisieren. Ein modernes Planungstool würde dagegen vorschlagen, einzelne Aufträge gezielt zurückzustellen, um insgesamt mehr Aufträge termingerecht abzuschließen.

Auch ein von INFORM entwickeltes und auf Machine Learning basierendes Prognoseverfahren für die Wiederbeschaffungszeiten von Waren verdeutlicht, welches Potenzial in Algorithmen steckt. Seine Prognosen sind bis zu 70 Prozent genauer als die häufig unpräzisen internen Stammdaten im ERP-System oder die oft unzuverlässigen Angaben der Lieferanten selbst. Mit den verlässlicheren Informationen planen Unternehmen nicht nur genauer und halten zugesagte Termine besser ein, sondern sparen sich auch teure Sicherheits- und Überbestände sowie kurzfristige Notkäufe zu höheren Preisen. 

In seine Analysen bezieht das Prognoseverfahren neben historischen Daten wie die zugesagten und tatsächlichen Liefertermine früherer Bestellungen auch lieferantenbezogene Informationen wie Bestellfrequenzen und Bestellmengen ein. Dazu kommen saisonale Daten wie feiertagsbedingte Abweichungen und händlerspezifische Eigenschaften. Zu diesen zählen beispielsweise die Unternehmensgröße und die Größe der Fahrzeugflotte. Aus diesen Daten lernt der Algorithmus, eine präzise Wiederbeschaffungszeit vorherzusagen, sodass Unternehmen rechtzeitig nachbestellen können. Dabei erkennt und berücksichtigt der Algorithmus auch Eigenheiten von Lieferanten, etwa wenn diese regelmäßig mehrere kleine Bestellungen zusammenfassen, um ihre Transportkapazitäten besser auszulasten, was zu Verzögerungen bei einzelnen Bestellpositionen führen kann.

Flexible Arbeitszeiten auch für Schichtbetriebe

Ihre Stärken konnten moderne Planungslösungen während der Pandemie allerdings nicht nur bei der Planung von Einkauf, Logistik und Produktion unter Beweis stellen. In der Personaleinsatzplanung unterstützten sie Unternehmen überdies bei der Reduzierung von unnötigen Personenkontakten und halfen so, das Risiko von Ansteckungen und damit von Betriebsschließungen zu minimieren. Zum Beispiel durch Schichten mit fester Besetzung, die Kontakte zu stetig wechselnden Kollegen verhindern, oder durch gestaffelte Anfangs- und Pausenzeiten, mit denen sich größere Mitarbeiteransammlungen an Werkstoren, in Umkleiden und in Kantinen vermeiden lassen.

Über die Pandemie hinaus erlaubt es spezialisierte Software für die Personaleinsatzplanung den Unternehmen, schneller und besser auf Mitarbeiterausfälle zu reagieren und stärker die Wünsche der Mitarbeiter zu berücksichtigen. Bislang erstreckten sich flexible Arbeitszeitmodelle meist nicht bis in die Fertigungshallen – dort überwiegen nach wie vor starre Arbeitszeit- und Schichtsysteme, die mithilfe von Algorithmen allerdings deutlich flexibler gestaltet werden könnten, was zur Mitarbeitermotivation und zur Attraktivität von Arbeitsplätzen in der Produktion beiträgt.

https://www.inform-software.de/

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