Vor der Künstlichen ist die menschliche Intelligenz gefragt

Dies ist ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Volker Gruhn, Vorsitzender des Aufsichtsrats der adesso AG.

Vor einiger Zeit war der Spruch „Dafür gibt’s doch eine App“ populär. Ob das Buchen von Flügen, das Bestellen eines Taxis oder das Übersetzen eines Gespräches: Die passende Anwendung gibt es auf dem Smartphone. Inzwischen sind mobile Lösungen – für Unternehmen und Kunden – etwas Selbstverständliches geworden.

Jetzt gibt es für jedes Thema eine Künstliche Intelligenz (KI). Das Verbessern der Gesundheitsvorsorge, die Kommunikation mit Kunden, das Optimieren von Waren- und Verkehrsströmen: Es gibt keinen Bereich des Wirtschafts- und Privatlebens, für den KI-Anwendungen nicht relevant sind. Sei es, weil sie bestehende Prozesse verbessern oder weil sie gänzlich neue Abläufe und Geschäftsmodelle erlauben. Die Möglichkeiten der Technologie scheinen geradezu unbegrenzt zu sein. In der öffentlichen Wahrnehmung umgibt der Nimbus des Magischen das Thema KI. Auch Unternehmensentscheider lassen sich davon anstecken.

Diese Euphorie darf nicht den Blick für die Arbeit in der Praxis verstellen. Experten beschwören erfolgreiche KI-Projekte nicht in den Zauberlaboren von Hogwarts herauf. Auch diese Projekte basieren auf einem detaillierten Verständnis für die Anforderungen der eigenen Branche, des eigenen Unternehmens und der eigenen Kunden. Sie erfordern Diskussionen zwischen Fach- und IT-Abteilung ebenso wie das kenntnisreiche Bewerten von Technologien und ihren Möglichkeiten. Kurzum: Damit KI funktioniert, müssen Menschen weiter die eigenen Köpfe anstrengen. Dabei sind die Technologien relativ neu, die Anforderungen und Möglichkeiten noch nicht ausreichend erprobt. In dieser Konstellation gilt es für die Verantwortlichen, die richtigen KI-Themen zu finden. Und dann die passenden Projekte auf- und umzusetzen.

KI braucht Raum zur Entwicklung

Wenn sich zwei Experten in einer Bar über KI unterhalten, liegen am Ende drei Definitionen auf dem Tisch. Was klingt wie der Anfang eines KI-Kalauers, enthält mehr als einen Funken Wahrheit. Denn die Fachwelt ist weit davon entfernt, sich auf eine einheitliche Definition von menschlicher oder Künstlicher Intelligenz einigen zu können. Für folgende Ausführen reicht diese pragmatische Definition: KI ist ein Teilgebiet der Informatik, das sich mit der Erforschung von Mechanismen des intelligenten menschlichen Verhaltens befasst. Die Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte hat die Fähigkeiten von KI-Anwendungen in vielen Bereichen erweitert. Die plakativsten Beispiele sind das Erkennen von Bildinhalten oder der Umgang mit Texten und menschlicher Sprache.

Auf Basis von KI-Technologien ist eine Vielzahl von Anwendungen denkbar. Alleine aus der Fähigkeit, die Inhalte von Gesprächen zu verstehen und adäquat zu antworten, leiten Unternehmen eine kaum zu überblickende Zahl von Einsatzszenarien ab: automatisierte Serviceportale, virtuelle Gebrauchs- und Bedienungsanleitungen, interaktive Reparaturprogramme, Echtzeitübersetzungen, Untertitel für Videos oder Bildbeschreibungen für Produktkataloge – das alles eingebunden in Chatbots, Smart Speaker, Augmented-Reality-Brillen, Service-Hotlines oder Webseiten. Den Möglichkeiten setzt alleine die Fantasie der Beteiligten Grenzen. Hinter jedem Szenario stehen andere Technologien, Prozesse, Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und Projektanforderungen.

Das Entwickeln von KI-Anwendungen erfordert ein angepasstes Vorgehen (Quelle: adesso AG)

Das Entwickeln von KI-Anwendungen erfordert ein angepasstes Vorgehen (Quelle: adesso AG)

Es mangelt nicht an Einsatzmöglichkeiten für KI-Anwendungen. Das Gegenteil ist der Fall: Das Zuviel an Auswahl ist das Problem. Sich hier nicht zu verzetteln, sondern die richtigen Ansätze und Anwendungsfälle auszuwählen, ist eine der entscheidenden Aufgaben für das Management. Unabdingbar ist es, von Beginn an die richtigen Experten am Projekttisch zu haben. Zusammen müssen sie dazu in der Lage sein, Machine-Learning-Verfahren genauso treffend einzuschätzen wie Kundenforderungen. Sie müssen die Qualität vorhandener Daten ebenso bewerten wie die Qualität einer Benutzeroberfläche. Soll ein Projekt zum Erfolg führen, sind KI-Know-how und Fachwissen gleichermaßen gefragt (mehr zu den notwendigen Rollen siehe unten). In der Realität prägen mangelndes Verständnis und Verstehen die Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen und IT. Die Grenzen zwischen den Abteilungen erschweren die Zusammenarbeit: Zu verschieden sind die Ziele, Arbeitsweisen oder Vorstellungswelten der jeweiligen Fachleute.

Ein Projektwerkzeug, das für diese Ausgangssituation entwickelt wurde, ist der sogenannte Interaction Room (IR). Er verfolgt ein ganz einfaches Ziel: Das Verständnis zwischen Fach- und IT-Experten zu verbessern. Er erreicht dies durch die visuelle Darstellung von Prozessen. Der IR ist ein echter, begehbarer Raum mit vier Wänden. Diese Wände haben tragende Funktionen. Auf ihnen visualisieren die Projektmitarbeiter Prozesse und stellen Projektdetails dar, hier erkennen sie Probleme auf einen Blick. Jede Wand repräsentiert einen speziellen Aspekt eines KI-Projektes. Mit ihrer Hilfe erkennen die Beteiligten Zusammenhänge und identifizieren Risiken, Aufwands- oder auch Werttreiber in Projekten. Gerade im Umfeld von KI-Themen, wenn Unklarheit über Möglichkeiten und technische Implikationen herrscht, spielt der IR seine Stärken aus.
Gemeinsam ermitteln die Projektbeteiligten die Grundlagen für erfolgreiche KI-Projekte. Das Spektrum der Arbeit reicht von ersten Denkanstößen über das Analysieren der vorhandenen Datenquellen bis hin zum Gestalten und Priorisieren von KI-Anwendungsfällen. Am Ende eines IR-Workshops haben die Experten ein Bild davon, in welche Richtung sie KI in ihrem Unternehmen weiterentwickeln sollen.

Ist diese Hürde der Themenauswahl genommen, steht das Projektteam vor der Aufgabe, auf Basis der erarbeiteten Ideen KI-basierte Anwendungen zu entwickeln. Für das Organisieren und Umsetzen dieser Projekte müssen die Beteiligten die Besonderheiten der Anwendungen berücksichtigen. Insbesondere Daten spielen eine andere Rolle.

Projekte rund um Daten designen

Datengetriebene Systeme stellen andere Herausforderungen an das Entwickeln als klassische Informationssysteme. Oft muss das Projektteam die notwendigen Daten erst beschaffen und aufbereiten. Anschließend lernen die Projektmitglieder ein Modell auf der Basis von Trainingsdaten an. Die Funktionsfähigkeit des Modells prüfen sie mit Testdaten. Häufig integrieren sie vorgefertigte KI-Services, von Chatbots bis Services aus dem Bereich des Maschinellen Lernens. Dabei entstehen Systeme, die Informationssysteme umfassen, die cyberphysikalische Anteile haben und die KI-basiert sind.
Für die klassische Softwareentwicklung gibt es ein ganzes Set an Verfahren, Vorlagen oder Blaupausen. Beteiligten an KI-Projekten fehlen diese etablierten Strukturen. Noch mangelt es Unternehmen an Erfahrungen im Umgang mit datengetriebenen Anwendungen. Vorhandene Konzepte eins zu eins für KI-Projekte zu adaptieren, führt nicht zum gewünschten Ergebnis. Hier kommt das Vorgehensmodell des „Building AI-based Systems“ ins Spiel. Dahinter verbirgt sich ein Ansatz mit Rollen, Phasen und Verantwortlichkeiten, der den Besonderheiten gerecht wird.

Die Beteiligten bei der Entwicklung datengetriebener Anwendungen lassen sich vier Rollen zuordnen: Domain Expert (kennt die Geschäftsprozesse des Unternehmens, die Abläufe in der Branche und die Anforderungen der Anwender), Data Scientist (ist firm im Umgang mit KI-Technologien, bringt Programmierkenntnisse mit und hat Erfahrung mit großen Datenmengen), Software Engineer (ein Experte für Softwareentwicklung, der ein grundlegendes Verständnis für das Thema Data Science mitbringt) und Data Domain Expert (besitzt Know-how über Geschäftsprozesse, Branchenbesonderheit und die Anwenderanforderungen). Jeder dieser Experten bringt unterschiedliches Know-how über Daten, Technologien, Prozesse, Domänen und das eigene Unternehmen ein. Durch die Kombination dieser Fertigkeiten entsteht ein Projektteam, das alle KI-Anforderungen abdeckt.

Im IR sehen die Beteiligten Zusammenhänge und Abläufe auf einen Blick (Quelle: adesso AG)

Im IR sehen die Beteiligten Zusammenhänge und Abläufe auf einen Blick (Quelle: adesso AG)

Das Vorgehensmodell unterteilt den Prozess in sechs Phasen: von der eingehenden Prüfung der vorhandenen Datengrundlage zu Beginn bis zur permanenten Kontrolle des laufenden Betriebs. Dieser Ansatz stellt sicher, dass die Beteiligten frühzeitig wissen, ob KI-Anwendungen überhaupt geeignet sind. Er unterstützt sie dabei, KI-Systeme in den Kontext klassischer Informations- oder cyberphysikalischer Systeme einbinden (Siehe Abbildung „Das Entwickeln von KI-Anwendungen erfordert ein angepasstes Vorgehen“).

Von der Auswahl der richtigen Projektmitarbeiter über das Bereitstellen der passenden Entwicklungswerkzeuge bis hin zum Umgehen mit Unsicherheit: Datengetriebene Anwendungen erfordern an vielen Stellen ein angepasstes Vorgehen. Den Verantwortlichen sollte klar sein, dass dieser Entwicklungs- auch ein Entdeckungsprozess ist. Mit dieser Unsicherheit müssen sie umgehen. Dafür ist es wichtig, ergebnis- und technologieoffen an den Prozess heranzugehen. Ein Beispiel: Das Team kann erst nach eingehender Prüfung entscheiden, ob die Datengrundlage überhaupt die Entwicklung KI-basierter Anwendungen zulässt.
Die Ausführungen zeigen: KI-Anwendungen liefern in vielen Aufgabengebieten beeindruckende Ergebnisse. Die Technologie ist reif. Aber damit sie zur vollen Blüte kommt, dürfen die Verantwortlichen in Unternehmen klassische Projekttugenden nicht vergessen. Keine Technologie ersetzt das persönliche Gespräch von Experten, die einander verstehen und am gleichen Ziel arbeiten.

Über den Autor:

Prof. Dr. Volker Gruhn gründete 1997 die adesso AG mit und ist heute Vorsitzender des Aufsichtsrats. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte in diesem Bereich liegen auf mobilen Anwendungen und der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Digitalen Transformation, insbesondere der Entwicklung und des Einsatzes von Cyber-Physical Systems. Prof. Dr. Gruhn ist Autor und Co-Autor von über 300 nationalen und internationalen Veröffentlichungen und Konferenzbeiträgen.

CC BY-SA 4.0 DE

 
 
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