Digitaler Humanismus

Brauchen wir einen digitalen Humanismus?

Gastbeitrag von Kai Grunwitz

Von der Digitalisierung erhoffen wir uns die grenzenlose Chance zur Weltverbesserung. Immerhin fördern innovative Lösungen die Gesundheit, vereinfachen das Leben zu Hause oder machen den Straßenverkehr sicherer. Digitalisierung soll sogar weltweit Hunger und Armut lindern – etwa indem Drohnen Pflanzenbestände, Schädlingsbefall und Ernteerträge erfassen und letztere durch den optimierten Einsatz von Düngemittel und Pestiziden steigern. Fakt ist, die Digitalisierung kann die Menschen in ihrem Alltag spürbar entlasten. Aber verkennen wir deswegen die unsichtbare Dehumanisierung? Wird es Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag – zwischen Mensch und Maschine? Brauchen wir einen digitalen Humanismus?

Definitionen für Humanismus gibt es viele. Er steht für eine ethische Philosophie, eine Theorie, die auf der Generierung von Wissen, Bedeutung und Sachkenntnis basiert, aber auch für eine neue intellektuelle Bewegung wie zu Zeiten der Renaissance. Heute ist der Begriff „Digitaler Humanismus“ dazugekommen. Dahinter steckt laut Gartner die Vorstellung, dass der Mensch im Mittelpunkt der Entwicklung von digitalen Unternehmen und digitalen Arbeitsplätzen steht. Unternehmen, die sich dem digitalen Humanismus verschrieben haben, nutzen Technologien, um die Art und Weise, wie Menschen ihre Ziele erreichen, neu zu definieren und Menschen zu befähigen, Dinge zu erreichen, die bisher nicht möglich waren.

Mit Hilfe von modernen E-Health-Anwendungen und digitalen Lösungen in der Medizintechnik beispielsweise können Ärzte und Pflegekräfte ihre Patienten schon heute besser betreuen. Dabei entstehen Innovationen in allen Bereichen der medizinischen Versorgung: Roboter unterstützen chirurgische Operationen und sorgen für eine präzise und schonende Behandlung. Mit Hilfe der Sequenzierung des Genoms eines Patienten entwickeln Ärzte hyperpersonalisierte Behandlungen, die die medizinische Versorgung sowie den Krankheitsverlauf deutlich verbessern. Steuerbare Implantate, Orthesen und Prothesen ermöglichen wiederum ein weitgehend selbstständiges Leben mit hoher Lebensqualität.

Oder Smart-City-Projekte: Sie können getreu den 17 globalen Zielen der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung Städte umweltfreundlicher, integrativer und damit lebenswerter machen. Mit dem Woven-City-Projekt erprobt der japanische Industriekonzern Toyota gemeinsam mit Technologiepartnern eine CO2-neutrale Stadt. Zentraler Bestandteil sind autonome Fahrzeuge, ein grünes Energiemanagement und Häuser, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und Robotik das Leben ihrer Bewohner erleichtern.

Die Kehrseite von Algorithmen und Automatisierung jedoch lässt sich nicht so einfach beiseite schieben. Eine davon ist, dass in manchen Branchen nicht mehr Menschen die wichtigste Ressource sind, sondern Technologie. Zwar werden durch Künstliche Intelligenz zahlreiche neue interessante Job-Profile entstehen – es werden aber auch alleine in Deutschland Millionen traditioneller Arbeitsplätze wegfallen. Das heißt, die Zahl der „Entbehrlichen“ wird drastisch steigen, schlimmstenfalls droht eine „Entkoppelung“. Damit die vielleicht wichtigste Disziplin der Digitalisierung, die Künstliche Intelligenz, also nicht zu einem Selbstläufer wird, brauchen wir einen digitalen Humanismus.

„Künstliche Intelligenz verfügt über das Potenzial, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.“

Autor Kai Grunwitz
In dem Bestreben nach einem neuen Humanismus ist aber nicht nur die Technologie-Branche gefordert, sondern Künstler, Philosophen und Sozialwissenschaftler gleichermaßen.

Nun muss man ehrlich zugeben, dass fast kein Technologieanbieter aus reinem Altruismus handelt – er will Geld mit seinen Lösungen verdienen. Aber selbst wenn der digitale Humanismus lediglich ein „Abfallprodukt“ wirtschaftlicher Interessen ist, wird die weitere Digitalisierung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft ohne eine neue Empfindsamkeit, eine digitale Éducation Sentimentale nicht funktionieren. Nur so lässt sich die Ko-Existenz und Zusammenarbeit mit KI über rein technokratische Aspekte hinaus aktiv gestalten.

Da Künstliche Intelligenz über das Potenzial verfügt, die Gesellschaft grundlegend zu verändern – im Guten wie im Schlechten –, muss sie zunächst einmal nach ethischen Standards programmiert werden. In dem Bestreben nach einem neuen Humanismus ist aber nicht nur die Technologie-Branche gefordert, sondern Künstler, Philosophen und Sozialwissenschaftler gleichermaßen. Erst durch das interdisziplinäre Zusammenspiel all jener, die die Schönheit des Abweichens, des Fremdartigen als zentrale Säule unseres Zusammenlebens verstehen, sind wir auf dem richtigen Weg.

So gesehen, bezieht sich der digitale Humanismus auf das uralte Anliegen, den Menschen in all seinen Facetten in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen. Die Humanisten des frühen 14. Jahrhunderts lösten eine Kulturrevolution aus, die in der Renaissance ihren Höhepunkt erreichte. Die Humanisten von heute stellen die Besonderheit der Menschen und ihrer Fähigkeiten in den Mittelpunkt und bedienen sich der digitalen Technologien, um diese zu erweitern, nicht um diese zu beschränken. Es ist an der Zeit für eine neue Kulturrevolution, eine neue Renaissance.

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