Die datengenerierende Wollmilchsau

Prof. Dr. Volker Gruhn, Aufsichtsratsvorsitzender der adesso SE betreibt einen Blick auf ChatGPT & Co.

„Generative KI-Lösungen haben das Potenzial, das Wirtschaftsleben in vielen Bereichen zu verändern. Ihr Einsatzspektrum ist nicht auf einzelne Branchen oder Aufgabenbereiche beschränkt“, sagt Volker Gruhn.

Selbst für eine so hypeverliebte Branche wie die IT setzt ChatGPT neue Maßstäbe. Erst seit November 2022 ist die Anwendung für die breite Öffentlichkeit verfügbar – und erreichte in Rekordzeit die Grenze von 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzern. In den Medien brechen seither alle Dämme: Je nach Blickwinkel und persönlicher Präferenz ist ChatGPT das Werkzeug, das die Menschheit zu neuen Höhenflügen verhelfen wird oder die Geißel, die Kreativität und eigenständigem Denken den Todesstoß versetzt.

ChatGPT wurde in kurzer Zeit zum Synonym für eine die ganze Kategorie von Anwendungen auf Basis von Künstlicher Intelligenz (KI), der sogenannten generativen KI. Dieser Bereich der KI konzentriert sich auf das Erzeugen von Daten, Bildern, Sprache oder anderen Inhalten durch maschinelle Modelle. Eine generative KI bringt neue Daten hervor, die auf der Analyse von Mustern in vorhandenen Daten basieren. So erschafft Dall-E, der künstlerisch begabte Cousin von ChatGPT, neue Bilder auf der Basis von Texteingaben. Seine Grundlage sind Datensätze mit Millionen Bildern und Beschreibungen. Für das Training nutzten seine Entwicklerinnen und Entwickler sogenannte tiefe neuronale Netze. Das Ergebnis: Eine Texteingabe reicht, und DALL-E entwirft ein Bild, das zur Beschreibung passt. Die Ergebnisse schwanken – und das gilt für alle generativen KI-Anwendungen – zwischen „genau richtig“ und „was soll das?“.

ChatGPT bietet Ähnliches, nur entstehen hier keine Bilder, sondern Texte. Zwei Aspekte fallen beim Nutzen der Anwendung sofort auf:

  • Die Nutzerinnen und Nutzer müssen sich bei der Texteingabe – den sogenannten Prompts – nicht an formale Kriterien halten. Es bedarf keiner exakten Eingabe. Kenntnisse einer Programmiersprache oder Formelwissen sind unnötig. Der Chatbot kann mit Anfragen arbeiten, die in natürlicher Sprache formuliert sind.
  • Die Themen, auf die ChatGPT glaubt, Antworten zu kennen – zu den Problemen siehe unten –, sind breit gefächert. Die Geschichte der Europäischen Union, eine Erläuterung des Begriffes Data Mesh, fünf Argumente für eine frühzeitige Altersvorsorge oder die Zusammenfassung des Buches „Der Fänger im Roggen“: Die Anwendung liefert auf alles eine Antwort. Sie findet Probleme in Softwarecode, macht Vorschläge für Excel-Formeln oder schreibt ganze Blog-Beiträge.

Aber auch bei ChatGPT ist nicht alles Gold, was glänzt: Der Chatbot präsentiert falsche Fakten, er erfindet Quellen oder phantasiert sich Lösungen zusammen. Denn die Lösungen haben einfach von nichts eine Ahnung. Sie basteln sich auf Basis umfangreicher Datenbanken Wort für Wort oder Pixel für Pixel etwas zusammen. Hinter den Ergebnissen steckt kein Verständnis oder Wissen, sondern Daten und Statistik.

Das Problem für die Anwenderinnen und Anwender: Ohne Links zu Quellen können sie die Aussagen nicht einfach überprüfen. Und da ChatGPT über alles im gleichen Brustton der Überzeugung schreibt, ist es nicht leicht, Sinnvolles von Unsinnigem zu unterscheiden. Inzwischen hat sich für falsche oder fragwürdige Ergebnisse einer generativen KI der Begriff „halluzinieren“ eingebürgert. Entscheidend für die Akzeptanz der Lösungen wird sein, wie die Anbieter dieses Phänomen in den Griff bekommen.

Vieles ist offen – vieles ist möglich

Die Qualität der Ergebnisse ist nicht der einzige Diskussionspunkt rund um ChatGPT & Co. Viele Kreative wollen nicht hinnehmen, dass ihre Werke – seien es Texte oder Bilder – ohne Vergütung zum Trainieren von Lösungen verwendet werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob KI-generierte Texte oder Bilder urheberrechtlich geschützt sind. Klagen sind anhängig. Juristinnen und Juristen bringen sich in Stellung, um die rechtlichen Fragen rund um das Trainieren und Nutzen von generativen KI-Anwendungen zu klären. Hier sind in den nächsten Monaten und Jahren einige wegweisende Entscheidungen zu erwarten.

Doch unabhängig von schwankenden Antwortqualitäten und Unsicherheiten in der rechtlichen Bewertung ist der große Trend klar: Generative KI-Lösungen haben das Potenzial, das Wirtschaftsleben in vielen Bereichen zu verändern. Ihr Einsatzspektrum ist nicht auf einzelne Branchen oder Aufgabenbereiche beschränkt. Sie suchen, recherchieren, schreiben oder entwerfen. Sie helfen, Strategien zu entwickeln, Wettbewerber zu analysieren oder PowerPoint-Präsentationen zu erstellen. Die Möglichkeiten scheinen endlos.

Wie groß die Auswirkungen sein werden, ist nach den wenigen Wochen der breiten Nutzung noch nicht absehbar. Aber derzeit forcieren die großen Anbieter wie Microsoft oder Alphabet den Einsatz der Technologie. Die nächste Generation von Office-Anwendungen, Content-Management-Systemen, Design-Software oder Marketing-Automation-Tools wird DALL-E- oder ChatGPT-ähnliche Funktionen von Haus aus mitbringen. Statt vor einem leeren Word-Dokument mit einer Schreibblockade zu kämpfen, werden sich Texterinnen und Texter erste Entwürfe ihrer Ideen schreiben lassen. Die Eingabe weniger Befehle ersetzt das aufwendige Fotoshooting für die geplante Produkteinführung. Haben KI-Anwendungen erst einmal ihre Kinderkrankheiten überwunden, sind den Einsatzszenarien kaum Grenzen gesetzt. Schon bald werden sie integraler Bestandteil der IT-Landschaft in Unternehmen sein.

Die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten lädt zu Spekulationen ein. Natürlich gibt es unzählige dunkle Szenarien, von qualitativ hochwertigem Massen-Spam bis hin zu Deep Fakes. Im Folgenden stehen jedoch die positiven Beispiele im Vordergrund:

  • In einer Bank: ChatGPT kann dabei helfen, automatisiert Einblicke in die Bedürfnisse und Anforderungen von Kundinnen und Kunden zu gewinnen. Die Anwendung sammelt Feedback und Meinungen aus verschiedenen Quellen wie Interviews, Online-Bewertungen oder Anfragen aus dem Kundenservice. ChatGPT analysiert Texte, erkennt Muster und bereitet die Ergebnisse in natürlicher Sprache auf. Diese Analyse hilft einer Bank, besser zu verstehen, was von ihr erwartet wird und in welchen Bereichen sie ihren Service verbessern muss. Diese Erkenntnisse helfen auch, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die den Kundenbedürfnissen besser entsprechen.

  • Im Marketing: Bisher setzen Unternehmen in der Kommunikation häufig auf sogenannte A/B-Tests. Dabei wird beispielsweise die Wirksamkeit von unterschiedlichen Kampagnenbotschaften zunächst bei einer kleineren Zielgruppe getestet. Der siegreiche Text wird dann im Gesamtmarkt ausgerollt. ChatGPT bietet die Möglichkeit, auf Basis vorhandener Kundendaten beliebig viele Botschaften automatisiert zu entwickeln. Damit können Unternehmen individuelle Marketingkampagnen auch für große Zielgruppen aufsetzen – sozusagen Massenkommunikation im 1:1-Stil. Dies trägt dazu bei, die Kundenbindung zu erhöhen und das Markenimage zu stärken. ChatGPT steigert Effizienz und Skalierbarkeit der Marketingkommunikation.

  • In der Automobilindustrie: Anwendungen wie DALL-E können Automobilunternehmen bei der Entwicklung von Prototypen unterstützen. Sie helfen den Ingenieurinnen und Ingenieuren, Ideen schnell und effizient zu visualisieren. Mit wenigen Befehlen kann ein Unternehmen mit DALL-E digitale Entwürfe erstellen, die realistisch wirken. Die Anwendung kann zum Beispiel verwendet werden, um verschiedene Entwürfe für den Innenraum oder die Außenverkleidung eines Fahrzeugs zu erstellen und zu vergleichen.

Die Herausforderung der Zukunft besteht für Unternehmen darin, das eine Argument zu finden, auf das noch niemand gekommen ist. Auch die KI nicht. Denn Neues denkt sich ChatGPT nicht aus.

Volker Gruhn

All diese Beispielen basieren auf den gleichen Veränderungen, die generative KI-Anwendungen mitbringen: Einerseits automatisieren sie in großem Maßstab, was noch vor wenigen Monaten undenkbar erschien: Wissensarbeit. Arbeit, die eigentlich weniger formalen Kriterien zu folgen schien. Bei der es auf die richtige Mischung aus Kreativität, Wissen und Erfahrung ankommt. Andererseits demokratisieren sie den Umgang mit Daten. Bisher waren Expertinnen und Experten gefragt, die Daten strukturieren, aufbereiten, technische Grundlagen schaffen und Abfragen vorbereiten. Bald reicht es für viele Anwendungsfälle, eine Anfrage in natürlicher Sprache zu formulieren. Den Rest übernimmt die generative KI.

Das hat unterschiedliche Konsequenzen:

  • Kurzfristig ist die Eingabe von Prompts und die KI-gestützte Erstellung von Texten, Videos, Präsentationen oder Softwarecode für viele Menschen der erste „echte“ Kontakt mit Künstlicher Intelligenz. Erstmals verstecken sich Algorithmen nicht unter der Haube, etwa in der Ergebnisliste einer Suchmaschine oder in den Vorschlägen einer Streaming-Plattform. Die Nutzerinnen und Nutzer erfahren im direkten Kontakt, wie KI funktioniert und welche Ergebnisse sie liefert. Dieses Ausprobieren und Spielen wird eine Vielzahl neuer Anwendungsfälle und Geschäftsmodelle auf Basis generativer KI hervorbringen.

  • Mittelfristig wird mit zunehmender Durchdringung der Unternehmen auch der Automatisierungsgrad in kreativen oder strategischen Bereichen steigen. Wie die Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI-Anwendung aussehen wird, welchen Grad an Autonomie die Technologie erhält, wird sich in naher Zukunft zeigen. Was folgen wird, ist eine Phase der Effizienzsteigerung, die eine ganze Reihe von Aufgaben betreffen wird – vom Design bis zum Top-Management.
  • Langfristig lassen sich durch den Einsatz von generativer KI kaum Wettbewerbsvorteile aufbauen. Das zeigt das Beispiel ChatGPT im Marketing: Wenn ein Unternehmen die Anwendung einsetzt, veröffentlicht es mehr und – je nach Qualität der vorhandenen Redakteurinnen und Redakteure – auch bessere Inhalte als vorher. Da aber alle Unternehmen die gleichen Möglichkeiten haben, steigt das Niveau insgesamt. Ein möglicher Vorsprung schmilzt dahin.

Der letzte Punkt zeigt: Wenn ein Unternehmen sich inhaltlich abheben, mit eigenen Ideen glänzen, neue Erkenntnisse gewinnen will, ist menschliches Verständnis unverzichtbar. Doch generative KI verführt dazu, die eigene Auseinandersetzung mit einem Thema zu umgehen. Warum aufwendig Fachzeitschriften lesen oder Konferenzen besuchen, wenn ChatGPT auf Knopfdruck eine 500-Zeichen-Zusammenfassung zu jedem Thema liefert? Aber: Ein Pseudo-Verständnis reicht nicht aus, um Kunden und ihre Bedürfnisse zu verstehen oder die Besonderheiten von Branchen zu durchdringen. Es reicht nicht, um als Berater und Partner ernst genommen zu werden. Die Anwendungen bieten Unternehmen alle Möglichkeiten, bessere Inhalte, Prozesse, Dienstleistungen und Angebote zu schaffen – wenn die Verantwortlichen sie als Werkzeuge intelligent einsetzen.

Die Aufgabe ist in Zukunft nicht mehr, fünf Argumente aufzulisten, die so oder so ähnlich bereits hundertfach veröffentlicht wurden. Die Herausforderung besteht darin, das eine Argument zu finden, auf das noch niemand gekommen ist. Auch die KI nicht. Denn Neues denkt sich ChatGPT nicht aus. Der Bot schaut immer nach hinten und friemelt aus Daten etwas zusammen. Das macht Menschen wieder ihre Stärke bewusst: der Blick nach vorne.


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