Das Bauhaus als Vorbild für eine neue Schule zur Gestaltung der Digitalisierung

Es folgt ein Kommentar von Kim Lauenroth, adesso SE

Der Begriff der „Digitalisierung“ wird gerne kritisiert: Er wird in vielfältigen Kontexten und mit unterschiedlichsten Bedeutungen verwendet, ohne klar definiert zu sein. So hat er im öffentlichen Diskurs schon den Ruf eines Buzzword, das schon bald durch ein neues Wort ersetzt wird. Ob die Kritik am Begriff gerechtfertigt ist oder nicht, soll hier kein Thema sein. Sie darf in jedem Fall aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Phänomene, die Menschen mit dem Begriff assoziieren, längst Realität sind: Digitale Technologien verbreiten sich in allen Lebensbereichen, sie werden unsere Gesellschaft noch auf Jahrzehnte hinaus prägen. Sie verändern die Art und Weise, wie wir arbeiten, kommunizieren, einkaufen und noch vieles mehr.

Aufgrund dieser tiefgreifenden Veränderungen bezeichnen Vertreter aus Politik und Wirtschaft die Digitalisierung gerne als Gestaltungsaufgabe. Sie rufen dazu auf, die Potenziale der Digitalisierung zum Wohle aller Bürger zu nutzen. Diese Botschaft ist richtig und gut. Vor allem, da Digitalisierung oft in einen negativen Zusammenhang gestellt wird. So wird beispielsweise der Künstlichen Intelligenz das Potenzial zugeschrieben, in Zukunft viele Arbeitsplätze zu vernichten. Aber an wen richten Politiker und Wirtschaftsvertreter ihre Botschaft? Wer soll die Digitalisierung eigentlich gestalten? Und vor allem, nach welchen Werten?
Was die Werte angeht, steht Europa auf seinem Weg in die Digitalisierung sowohl geografisch als auch bildlich zwischen den USA und China. Beide Länder lassen sich auf ihrem Weg durch ihre individuellen Werte leiten und gestalten so ihre digitale Zukunft. Beide Wege entsprechen allerdings nicht den humanistischen Werten, auf denen die Europäische Union gründet. Sie sind daher als Vorbild nur bedingt geeignet. Europa muss sich seinen eigenen Weg suchen und eine digitale Zukunft gestalten, die den europäischen Werten entspricht.

An dieser Stelle könnte dieser Kommentar nun eigentlich enden. Denn die europäischen Werte sind klar und die Gestalter der Digitalisierung sollen diese dann eben anhand der europäischen Werte ausrichten. Was ist das Problem?

Das Problem liegt darin, dass wir keine Gestalter der Digitalisierung haben. Ein kleiner Exkurs hilft hier beim Verständnis. Wer ein Gebäude errichten möchte, wendet sich in erster Instanz an eine Architektin oder einen Architekten. Denn es ist hinlänglich bekannt, dass sie in einem anspruchsvollen Studium dafür ausgebildet werden, Gebäude so zu gestalten und deren Bau so zu begleiten, dass die Gebäude den Bedürfnissen der Nutzer und Bauherren entsprechen. Was ist die Analogie zum Architekten in der Digitalisierung? Die Antwort mag verblüffen: Es gibt sie nicht – und es gibt auch keine systematische Ausbildung zum Gestalter der Digitalisierung.
Dieser Mangel ist kein kleines Problem. Es ist natürlich unbenommen, dass sich Menschen berufen fühlen, die Digitalisierung zu „formen“. Digitalisierung passiert schon heute und dazu gehört natürlich auch ihre Gestaltung. Dennoch fehlt gleich eine ganze Berufsgruppe von Menschen, die es als ihre Verantwortung begreifen, als „Designer“ der Digitalisierung aktiv zu werden und vor allem auch gezielt für diese Aufgabe ausgebildet werden. So hängt die Gestaltung der Digitalisierung von Menschen ab, die nur bedingt für diese Aufgabe vorbereitet wurden. Im Bauwesen akzeptiert die Gesellschaft diesen Zustand nicht, daher gibt es den Beruf des Architekten. Für die Digitalisierung dürfen wir diesen Umstand auch nicht weiter zulassen.
Genau an dieser Stelle setzt das Bitkom-Positionspapier „Digitale Bauhäuser für den europäischen Weg in die digitale Zukunft“ an. Es fordert die Gründung „Digitaler Bauhäuser“, um genau gezielt Gestalterinnen und Gestalter der Digitalisierung auszubilden.

Auf den ersten Blick liegt der Gedanke nahe, dass es sich zum 100. Geburtstag des Staatlichen Bauhauses um ein geschicktes Werbemanöver handelt. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch heraus, dass das Bauhaus ein hervorragendes Vorbild für die Ausbildung von Gestaltern und auch für die Gestaltung der Digitalisierung selbst ist.
Die Gründung des Bauhauses vor 100 Jahren wurde durch Umstände motiviert, die vergleichbar mit der aktuellen Ausgangslage sind . Die Industrialisierung brachte nicht nur neue technische Möglichkeiten, sondern veränderte auch gleichzeitig massiv die Arbeitswelt und die Gesellschaft. Die veränderten Bedingungen erforderten Weiterentwicklung im Design und in der Architektur und gleichzeitig auch ein neues Ideal für die Gestaltung.

Das Bauhaus wird heute in der Öffentlichkeit primär für seine Objekte gefeiert und nicht so sehr für die Menschen, die hinter diesen Gegenständen stehen. Walter Gropius wollte seine Studentinnen und Studenten befähigen, die neuen Materialien (beispielsweise Stahl, Glas und Beton) zu beherrschen – und gleichzeitig über den Status quo hinauszudenken, um ihren Zukunftssinn zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft zu wecken.

Um diesem eigenen Anspruch gerecht zu werden, hat Walter Gropius das Bauhaus nicht nur als Hochschule gedacht, sondern gleichzeitig auch als Labor für die Ausbildung und als Thinktank zur Entwicklung eines lebenswerten Zukunftsideals. Nur so konnte das Bauhaus Menschen ausbilden, die Gegenstände und Gebäude erschaffen haben, die heute noch weltweit berühmt sind – und auch genutzt werden.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir heute wieder Einrichtungen wie das Bauhaus brauchen, um das volle Potenzial der Digitalisierung zu nutzen und vor allem, um zu verhindern, dass die vielfach heraufbeschworen digitalen Dystopien Realität werden. Wir brauchen Menschen, die es den „Bauhäuslern“ gleichtun und das Digitale als eigenständiges und gestaltbares Material begreifen und auch beherrschen können. Es geht aber dabei nicht nur um technische Kompetenz. Gleichzeitig müssen die neuen digitalen Bauhäuser den Studentinnen und Studenten unsere europäischen Werte vermitteln, damit diese als Leitbild für die Gestaltung der digitalen Zukunft von Europa dienen können.

Hanno Rauterberg schließt seinen Text über das Bauhaus mit dem Gedanken, dass das Bauhaus einen Freisinn geweckt hat, der auch nach 100 Jahren noch nachwirkt und von dem man sich heute davontragen lassen sollte. Genau das sollten wir auch für die Digitalisierung anstreben. Digitale Bauhäuser können als Leuchtturm fungieren und genau wie das originale Bauhaus die außerordentlichen Talente anlocken, die eine lebenswerte digitale Zukunft gestalten wollen. Durch ihren Freisinn haben Studentinnen und Studenten in den Werkstätten am Bauhaus die herausragenden Produkte erst erarbeiten können. Mit der richtigen Ausbildung und dem passenden Umfeld können Studentinnen und Studenten an digitalen Bauhäusern diesen Erfolg wiederholen und vielfältigste Ideen für die digitale Zukunft von Europa erdenken und dann auch realisieren.

Über den Autor

Dr. Kim Lauenroth leitet bei der adesso AG das Competence Center für Requirements Engineering. Er ist erster Vorsitzender des International Requirements Engineering Board e.V. und engagiert sich im Bitkom für die Etablierung von Digital Design als Gestaltungsprofession der Digitalisierung.

Weitere Informationen unter:
www.adesso.de

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