COVID-19: Beschleuniger für disruptive Technologien?

Patrick Ruschmeyer, Senior Partner bei Cassini Consulting, erläutert im Interview mit der Trend-Report-Redaktion die disruptiven Folgen der Corona-Krise.

COVID-19 bestimmt seit Monaten das globale Geschehen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren einschneidend und hatten eine nie dagewesene Dimension. Viele Unternehmen traf der Lockdown ins Mark. Weitreichende Entscheidungen waren binnen kürzester Zeit zu treffen. Und geltende Prozesse und Strukturen erwiesen sich von einem Tag auf den anderen als überholt.


Herr Ruschmeyer, welche Folgen hat die Corona-Krise für deutsche Unternehmen? Welche Konsequenzen müssen wir ziehen?

Für den Mittelstand ist die Krise genauso eine Herausforderung wie eine Chance. Das Pendel ist in beide Richtungen ausgeschlagen. Es gibt Unternehmen, deren Produkte in der Krise noch stärker nachgefragt sind. Medizintechnik etwa ist nicht nur gefragter, sondern sogar dringend notwendig. Auch etliche Bekleidungshersteller haben ihre Produktion kurzentschlossen auf Schutzkleidung umgestellt. Im gesamten Mittelstand gibt es Beispiele dafür, wie schnell die Herausforderung angenommen wurde. Wenn größere mittelständische Unternehmen, die mehrere Tausend Mitarbeiter haben, sie von einer Woche auf die andere nach Hause schicken müssen, ist das gravierend.

Aber mich hat beeindruckt, wie flexibel und agil der Mittelstand reagiert hat. Wie schnell beispielsweise bei Tausenden Mitarbeitern im Homeoffice deren anfängliche Verbindungsprobleme behoben waren, oft innerhalb einer Woche. Wie die Produktion wegen der Abstandsregeln auf Zwei- oder Dreischichtbetrieb umgestellt wurde. Manche Unternehmen hatten sogar Pandemiepläne in der Schublade. Und selbst dort, wo die Produktion wegen unterbrochener Lieferketten aus Asien völlig zum Erliegen kam, gab es keine Panik. Das war große Klasse.

Die heutigen Erfahrungen sind Motor für eine neue Art der Zusammenarbeit. Es ist davon auszugehen, dass 30 bis 50 Prozent der Arbeitnehmer in der Post-Corona-Zeit im Homeoffice werden arbeiten wollen. Das wiederum wirkt sich auf Leadership, Kommunikation, Bürogestaltung, die IT – im Grunde auf das ganze Unternehmen aus. Darauf müssen Organisationen vorbereitet sein.

Als IT- und Technologieberatung sind sie unter anderem für viele namhafte Unternehmen im Mittelstand tätig. Welche Fragen haben Sie seit Beginn der Corona-Krise am häufigsten gehört?

Für viele unsere Ansprechpartner war interessant, wie wir als Berater selbst mit der Krise umgehen. Unser Austausch betraf oft gar nicht so sehr das Kerngeschäft der Unternehmen. In Sachen Digitalisierung gibt es auch im Mittelstand noch Hausaufgaben zu machen, aber die Unternehmen sind viel weiter, als es etwa der Bund in Bereichen wie Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur ist. Die häufigsten Fragen waren die nach der Führung auf Distanz, welche Modelle es für den Umgang mit der Krise gibt und wie die Krisenkommunikation nach innen aussehen sollte. Ein weiteres Thema war, wie die internen Krisen-Taskforces in Unternehmen jeweils agieren, unsere eigene wie die unserer anderen Kunden.

Und was sind Ihre Antworten auf diese Fragen?

In der Krise haben sich Führung und Kommunikation natürlich extrem gewandelt. Dabei sind die Mitarbeiter ebenso verunsichert wie die Inhaber. Die Digitalisierung der Arbeit fördert größere Freizügigkeit, Dezentralisierung und Autonomie. Trotzdem wünschen sich Mitarbeiter auch bei einer Führung auf Distanz Klarheit – einen Top-down-Ansatz mit klaren Aufgaben. Das heißt, dass in der Krise starke Führungskräfte gefragt sind. Bei einer Führung auf Distanz ist es wichtig, den Mitarbeitern viel Sicherheit zu geben. Um diese Verbindlichkeit herzustellen, muss klar sein, was kommuniziert werden soll und welche Zielgruppen zu adressieren sind. Für die bevorstehenden Zeiträume braucht es jeweils einen klaren Plan: für die ersten zwei Wochen, für die nächsten vier Wochen, für die nächsten drei Monate. Wichtig ist es auch, auf die Doppelbelastung von Mitarbeitern mit Kindern einzugehen.

„Ein vorausschauendes Krisenmanagement wird in Zukunft ein Wettbewerbsfaktor sein.“

Patrick Ruschmeyer

Disruptive Technologien – was für viele nach ferner Zukunft klang, scheint in der Krise zur echten Chance geworden zu sein. Mit welchen Technologien sollte man sich näher befassen?

Die disruptiven Effekte der Krise haben verdeutlicht, wie wichtig die Digitalisierung ist, wenn es darum geht, flexibel reagieren zu können. Die konkrete Technologie ist allein gar nicht entscheidend. Es kommt auch darauf an, die Menschen mitzunehmen. Wobei die meisten Mitarbeiter ihre neue Technologie recht gut im Griff haben. Andere lernen jetzt durch die Krise den Umgang mit Technologie. Entscheidend ist: Es braucht eine Digitalisierung, die mehr Flexibilität verleiht. Veraltete Token-Technologie beispielsweise hat nicht selten die Skalierbarkeit von Homeoffice-Konzepten gebremst.

Gleichzeitig hat die Krise verdeutlicht, dass Laptops sinnvoller sind als Desktop-PCs. In ganz Deutschland waren ja für ungefähr zwei Wochen gar keine Laptops mehr zu bekommen. Die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, auch im Homeoffice, ist heute einfach Pflicht. Darauf muss auch die Infrastruktur der Unternehmen vorbereitet sein. Wenn von einem Tag auf den anderen Tausend Mitarbeiter auf demselben Knotenpunkt arbeiten sollten, führte das zu Problemen. Darum wird Business Continuity Management in Zukunft viel wichtiger.

Beschäftigen sich aktuell viele Unternehmen im Mittelstand mit den neuen Technologien? Oder müssen sie nicht eher andere Probleme lösen?

Die Antwort darauf ist Jein. Es gibt ganz allgemein einen gewissen Nachholbedarf bei der Digitalisierung – recht deutlich zum Beispiel im Bildungssystem. Aktuell reichen auch im Mittelstand die Investments noch nicht aus, aber wir sprechen da vielleicht von fehlenden 20 oder 30 Prozent. Die Produktion etwa ist schon weitgehend digitalisiert und vernetzt. Was die Krise allerdings klargemacht hat, ist, dass es für Lean-Production- und Just-in-Time-Konzepte Grenzen gibt. Manches war da mit der heißen Nadel gestrickt.

Alles auf China oder Indien konzentrieren zu wollen, hat offenbar nicht geholfen. In der Folge dürfte es mehr skalierbare Produktionsstätten vor Ort mit entsprechender Lagerhaltung geben – und dadurch mehr Wertschöpfung und Produktionstiefe in Europa. Nur so ist es möglich, Totalverluste in Krisenzeiten abzufedern. Das wird zu höheren Preisen führen, aber auch zu stabileren Löhnen. Zu einem Zurück in die 80er-Jahre, zu rein lokaler Produktion, wird es allerdings nicht kommen. Die ganze Gesellschaft hat durch die Krise einfach einen Schritt zurück getan. Die Geschwindigkeit, mit der sich Welt drehte, hat sich etwas reduziert.

Die Corona-Krise wird vorübergehen, die nächste Krise wird kommen. Wie können sich die Unternehmen besser schützen, oder: Was sind die Learnings, die Sie den Unternehmen mitgeben wollen?

Es braucht mehr Digitalisierung, mehr Flexibilität, mehr Resilienz. Wer sich jetzt über Business Continuity Management Gedanken macht, bereitet sich damit auch auf künftige Veränderungen und Disruptionen vor. Business Continuity Management wird zukünftig ein Dauerthema sein. Die nächste Krise wird kommen – ob wir das wollen oder nicht. Und darauf müssen wir vorbreitet sein. Der Blick nach Südkorea zeigt, dass ein vorausschauendes Krisenmanagement in Zukunft ein Wettbewerbsfaktor sein kann. Aber wir müssen uns wohl auch vom digitalen Turbokapitalismus verabschieden. Alles umsetzen zu wollen, nur weil es möglich ist, war offenbar falsch.

Themen wie Nachhaltigkeit, Klimaneutralität und Purpose spielen in Zukunft eine größere Rolle. Auch das Menschenbild verändert sich durch die Krise hin zu mehr Solidarität. Bei Cassini beispielsweise hatten wir nicht das Ziel, unseren Umsatz zu steigern – wir wollten niemanden in Kurzarbeit schicken. Manche unserer Berater haben auch Überstunden gemacht, um die Umsatzeinbußen bei Beratern ohne Projekte aufzufangen. Der Lockdown hat natürlich auch gezeigt, dass wir als Berater gar nicht immer beim Kunden vor Ort sein müssen: Zwei halbtägige virtuelle Workshops können ja auch funktionieren. Generell wird es nach der Krise darum gehen, noch mehr in sinnvolle digitale Techniken zu investieren – und sie zu nutzen.

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