Auf der Einbahnstraße nach Shibuya

Ein Beitrag aus der Serie „Chronicles der Kommunikation

Von Alain Blaes*

Die globale Kommunikation findet heute auf den Servern weniger US-amerikanischer Plattformanbieter statt. Sie sind die Gewinner im Massenkommunikations-Zeitalter und haben menschliche Netzwerke und die Medienwelt tiefgreifend verändert. Grund genug, einmal in die 170-jährige Geschichte dieses Krimis einzutauchen.

Ein Triumph für die Menschheit, ein Geschenk Gottes, ganz ungeahnte Möglichkeiten – neue Kommunikationstechnologien haben Menschen über Jahrhunderte zu euphorischen Aussagen begeistert. Im Angesicht des Buchdrucks, der ersten Übersee-Telegraphenverbindung oder digitalen Messengern empfanden Martin Luther, James Buchanan, Biz Stone und ihre Zeitgenossen tiefe Freude für die Potenziale des Wandels. Sie erahnten die Potenziale dieser Technologien und ihre Auswirkungen auf menschliches Zusammenleben.

Die Geschichte hat ihnen Recht gegeben. In vielen historischen Analysen sind Kommunikationstechnologien ein Schlüssel, um die Sternstunden der Menschheit und ihre Entstehungsgeschichte zu verstehen. Revolutionen, Kriege, Innovationen und die globale Zusammenarbeit lassen sich ohne Kommunikation nicht erklären. Die Geschichte der Kommunikation ist damit eine Geschichte der Technologie, aber eben auch eine Geschichte der Gesellschaft, der Politik und des Unternehmertums. Eine Aufzählung, die sich lange fortsetzen lässt, weil Kommunikation in allen Bereichen menschlichen Lebens und Arbeitens von zentraler Bedeutung ist. Sie kann bekanntermaßen nicht „nicht stattfinden“ und ist zugleich, wenn sie erfolgreich geführt wird, ein Push für jede zwischenmenschliche Interaktion.


Die Kommunikation im digitalen Zeitalter gleicht einer komplexen Kreuzung wie Shibuya Crossing. (Quelle: PR-COM)

Massenzeitalter revolutioniert die Unternehmenskommunikation

Aus Perspektive der unternehmerischen PR findet in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Zeitenwende statt, die die Medienwelt und damit die öffentliche Kommunikation bis heute beeinflusst. Die zweite industrielle Revolution und ihre Errungenschaften tragen dazu bei, dass aus dem exklusiven und teuren Gut einer Print-Zeitung erschwingliche Massenware wird. Die Zahl der Verlage und der aufgelegten Medien wächst in wenigen Jahren exponentiell an. Industrielle Produktion, Elektrizität und chemische Verfahren machen die Druckprozesse immer effizienter und einfacher zu skalieren. So entstehen familiäre Druckerdynastien, die bis ins 21. Jahrhundert oligopolistisch den Markt strukturieren und auch ein entsprechendes Selbstverständnis für den geführten Kommunikationsstil hochhalten.

Massenkommunikation im 19. und 20. Jahrhundert ist bis zur digitalen Revolution primär eine Einbahnstraße. Es gibt klare Hierarchien und festgelegte Funktionen von Sendern und Adressaten. Leser und später Radiohöher und Fernsehzuschauer können nur mit großer Zeitverzögerung auf Inhalte reagieren und ihre Meinung äußern, und sind dabei von der Gunst der Redaktionen abhängig, ob Leserbriefe oder Umfragen auch veröffentlicht werden. Diese Asymmetrie macht Journalisten zu den Meinungsführer des öffentlichen Diskurses. Sie üben damit eine politische Rolle aus – nicht selten lassen sie sich auch, mit fatalen Folgen im 20. Jahrhundert sichtbar, zur politischen Agitation hinreißen. Die Pluralität der Medien korreliert sichtbar mit der Pluralität der Verleger. Ja, der Verleger, nicht der Verlegerinnen.

Das blühende Zeitalter der Massenkommunikation verändert auch das Unternehmensmarketing. Mit reichweitenstarken Zeitungen lassen sich erstmals überregionale Kundenkreise erreichen, die vorher mühsam mit Plakaten, Aushängen und Mundpropaganda angesprochen werden mussten. Kein Wunder, dass das Anzeigengeschäft schnell zum Wachstumsmotor des Verlagswesens wird und das Volumen der Hefte wie die Zahl der Publikationen massiv aufbläht. Eine Dynamik, die im 20. Jahrhundert durch das Radio und später das Fernsehen weiter angefacht wird und bis zur digitalen Revolution das Marketing-Trio der Unternehmenskommunikation strukturiert.

Plattformanbieter laufen Medienhäusern den Rang ab

Die Finanzkrise 2008 markiert eine ökonomische Zensur, die die Medienlandschaft ähnlich tiefgreifend verändert, wie 150 Jahre zuvor das Entstehen der Massenkommunikation. Da ist zum einen der finanzielle Einschnitt. Die Verlage, die zuvor in den Peak-Zeiten der New Economy hunderte Seiten mit Anzeigen füllen konnten, geraten in existentielle Schwierigkeiten. Doch ein zweiter Faktor wiegt noch stärker: Das profitable Geschäft hatte dazu beigetragen, dass viele gesättigt auf der faulen Haut lagen. So kommt es, dass die Verlagsbranche gerade im deutschsprachigen Raum den Sprung ins digitale Zeitalter verschläft. In den Anfangsjahren betrachten sie es fatalerweise teils sogar mit Zynismus. Doch nüchtern werden sie am Ende von der Entwicklung belehrt: Innerhalb eines Jahreszehntes brechen die Werbeerlöse und Leserzahlen um 50 Prozent und mehr ein. Viele Titel werden eingestellt oder kranken über Jahre an veralteten und unattraktiven Digitalmodellen. Die Nutzer wenden sich ab und suchen nach Plattformen, die Inhalte und Interaktion miteinander verknüpfen. So entstehen digitale Ableger aus der Print-Legacy, die Diskussionsforen und damit einen Meinungsaustausch bieten. Noch intensiver wird dieses Bedürfnis von sozialen Netzwerken erfüllt, die in kurzer Zeit zu den neuen Sternen am Kommunikationshimmel werden und Medienhäuser dazu bringen, ihre Inhalte auf vielen Plattformen zu spielen.

So gelingt dem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg der Coup, das gesamte Werbe- und Anzeigengeschäft auf den Kopf zu stellen und seine sozialen Netzwerke erfolgreich zu monetarisieren. Genauer gesagt, sehr erfolgreich zu monetarisieren. In 2019 decken Google und Facebook etwa 75 Prozent des digitalen Anzeigenmarktes in Deutschland ab. Und in 2021 hat Facebook seine weltweiten Werbeumsätze im Vergleich zum Vorjahr erneut zweistellig um 37 Prozent verbessern können. Nicht grundlos werden Google, Facebook und Amazon mittlerweile als Oligopolisten bezeichnet. Die Attraktivität ihres Geschäftsmodells beruht auf den Möglichkeiten des Social Media Marketings und den hohen Marktdurchdringungszahlen. Noch nie war es für Unternehmen so einfach darstellbar und betriebswirtschaftlich messbar, zielgruppenfokussiert zu kommunizieren und zu werben.


Alain Blaes, Geschäftsführer von PR-Com, blickt auf die „Geschichte der Kommunikation“ zurück. Mehr denn je gleicht diese einem Marktplatz, auf dem jeder gleichzeitig alles sein kann: Sender, Empfänger, Verstärker oder „Weiterleiter“.

Netzwerkartige Kommunikation ersetzt die Einbahnstraße

Das Erfolgsgeheimnis von sozialen Netzwerken liegt in der verhaltenspsychologischen Analyse von Kommunikationsbedürfnissen. Es ist bekanntermaßen kein Zufall, dass Like-Buttons, News-Feeds, Kommentare und Push-Nachrichten schnell in allen Netzwerken und Messengern Einzug gefunden haben. Sie spielen mit der Neugierde und dem Belohnungszentrum des menschlichen Gehirns. Und das so erfolgreich, dass mittlerweile 87 Prozent der Bevölkerung in Deutschland durchschnittlich 1,5 Stunden pro Tag aktiv Social Media nutzen. Im Zusammenspiel mit weiteren Medien erklären sich dann Durchschnittswerte wie eine Smartphone-Nutzung von 3,5 Stunden täglich und eine gesamte Mediennutzung von 7 Stunden pro Tag.

Das Gemeinschafts-Gefühl, das durch die Teilnahme an einer netzwerkartigen, zirkulierenden Kommunikation entsteht, ist für das Anziehungspotenzial der heutigen Medienwelt verantwortlich. Denn während man früher maximal über einen Leserbrief an der medialen Diskussion mitmischen konnte, gibt es im digitalen Raum keine Limitationen oder Gatekeeper mehr, die die Teilnahme regulieren. Jede Person kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten jede Funktion einnehmen – als Sender, Repeater oder Empfänger von Inhalten. Das schafft sichtbare Pluralität, führt aber auch dazu, dass im Affekt geäußerte Meinungen zu negativer Kommunikation und einem Kontrollverlust führen können.

Für die Unternehmens-PR liegen in der digitalen Kommunikation große Chancen. Die Dynamik und Agilität fordern jedoch auch heraus. Der Dialog mit allen Stakeholdern, insbesondere den Kunden, muss am Besten 24/7 geführt werden. Nur eine Anzeige zu buchen reicht schon lang nicht mehr aus. Ja selbst Passivität kann dazu führen, dass ein externer Akteur das Messaging des eigenen Unternehmens steuert. Und auch der Versuch, 100-prozentige Kontrolle zu behalten, ist heute endgültig zum Scheitern verurteilt, man kann nur bestmöglich versuchen, die Kommunikation in Gang halten und in die richtige Richtung zu coachen. Damit gleicht die Kommunikation im digitalen Zeitalter einer komplexen Kreuzung wie Shibuya Crossing in Tokio, der berühmtesten ihrer Art. Es gibt Basisregeln, wie Ampeln und Fußgängerwege, und dennoch folgen die Prozesse am Ende einer organischen Logik aus Chaos und Freiheit. Doch dazu mehr in Teil 2.

* Alain Blaes ist CEO von PR-COM


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Foto von Ryoji Iwata auf Unsplash


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